Nun ja, was soll man sagen? Man plant eine Vehüllungsaktion, um auf einen Missstand hinzuweisen, der nicht nur in der Zeit davor für Diskussionen gesorgt hat, sondern zudem noch das absolute Einknicken vor der Facebook-Bubble-aufgepeitschten Wutbürgerei verdeutlichte. Und schon sieht man sich einer Gruppe hämischer und teils wutschnaubender älterer Herrschaften gegenüber, während der Ton schroffer wird und die Reaktionen handgreiflicher.
Kunst hat einen schweren Stand. Nach wie vor.
Aber von Anfang:
Im östlichen Teil der Rüsselsheimer Innenstadt befindet sich der Stadtbezirk Geiersbühl – bauliche eine typische Arbeiter*innen-Siedlung, also sich ähnelnde Wohnhäuser mit Wohngebäude, Hof, Schuppen und kleinem Garten. Allen in allem ein historisch-exemplarischer Stadtbezirk, welcher den allmählichen gesellschaftlichen Wandel in einer industriegeprägten Stadt wieder spiegelt und deswegen auch in Teilen zur Route der Industriekultur zählt.
Mitten im Geiersbühl befindet sich der Opelplatz – im Grunde ein nicht bebautes Flurstück, auf dem eine kleine Grünanlage angelegt wurde, die damit eine kleine Besonderheit im Stadtbezirk darstellt. Genau aus diesem Grund steht eben dieser Opelplatz mit den anliegenden Wohnhäusern unter dem denkmalpflegerischen Ensembleschutz. Ensembleschutz bedeutet, dass nicht einzelne – fassbare – Bauten unter Denkmalschutz stehen, sondern ein Gesamtbild, welches sich aus den gelisteten Bauten ergibt. Es geht also darum ein Gesamtbild zu erhalten! Die enthaltenden Bauten müssen nicht zwingend individuell unter Denkmalschutz stehen.
Fairerweise muss man sagen, das die Unterscheidung zwischen Denkmal- und Ensembleschutz nicht direkt einleuchtend sind, vor allem dann, wenn man sich nicht damit auseinandersetzt.
Canaletto-Blick am Dresdner Elbufer mit dem Blick auf die barocke Altstadt
Dieser rote Metallrahmen steht am linken Elbufer in Dresden und lenkt den Blick auf die Dresdner Augustusbrücke und Altstadt. Dieses Motiv ist als der sogenannte Canaletto-Blick, benannt nach Bernardo „Canaletto“ Bellotto (1722-1780), bekannt und verdeutlicht sehr eindrucksvoll die Unterscheidung zwischen Denkmal- und Ensembleschutz.
Die Altstadt bildet dabei ein Gesamtbild (Ensemble), welches klar definiert ist: Dresdner Altstadt = Barockbauten!
Dieses Gesamtbild gilt es zu bewahren. Das Gesamtbild ist aber nicht fassbar! Jedoch besteht bei diesem Beispiel noch der Fall, dass diverse Bauten der Altstadt nochmal individuell unter Denkmalschutz stehen. Das verdeutlicht nochmals die Tatsache, dass Bauten in einem Ensemble nicht zwingend denkmalgeschützt sind, sondern nur das Gesamtbild des Ensembles! Der Baukran auf dem Bild gehört z.B. nicht zum Ensemble auch wenn er zurzeit darin steht! Dasselbe gilt auch für kleine Einbauten (Bänke, Mülleimer usw.), die vielleicht nicht zu sehen sind, aber im Bereich des Ensembles stehen. Hier gilt: Solange Einbauten oder Objekte temporär im Ensemble sind (z.B. Baukran) oder das Gesamtbild nicht erheblich stören (z.B. Bänke, Mülleimer), sind sie im Ensemble geduldet.
Und mit diesem Wissen zurück nach Rüsselsheim!
Der Rüsselsheimer Opelplatz steht ebenfalls unter Ensembleschutz, wie es dieser Auszug aus dem hessischen Denkmalbuch begründet:
Die Gesamtanlage erlangt Bedeutung als ältestes Arbeiterwohnviertel der Stadt. Sie dokumentiert den Übergang vom kleinen Ackerbürgerhaus zur serienmäßigen Bebauung aus industriell gefertigten Baustoffen. Geschichtlich besonders interessant ist die planmäßige, standardisierte Bauweise in Variation eines Gebäudetyps. Die Gesamtanlage Opelplatz ist daher Kulturdenkmal aus sozial- und ortsgeschichtlichen Gründen.
Dennoch befindet sich auf dem Opelplatz ein Gebäude, welches eigentlich nach den Bestimmungen des Ensembleschutzes nicht dort stehen sollte!
Ein Trafohäuschen. Dieses Gebäude ist kein temporärer Bau und wird auch nicht geduldet, weil es das Ensemble nicht erheblich stört – dafür ist es viel zu groß. Dennoch liegt hier eine Duldung des Gebäudes vor, weil das öffentliche Interesse – in diesem Fall die Stromversorgung des Stadtbezirks – überwiegt. Die Duldung setzt aber voraus, dass sich das Gebäude nicht zusätzlich zu seiner Größe im Ensemble hervorhebt!
Diese Duldung wurde dadurch verwirklicht, indem das Gebäude – ähnlich wie die angrenzenden Gebäude – in Sand- und Naturfarben gehalten wurde. Ein Zustand, der bis Mitte 2020 vorlag. Die Stadtwerke Rüsselsheim – als Eigentümerin des Trafohäuschens – ließen das Gebäude mit großflächigen Graffitos umgestalten, weil die einfarbige Fassade immer wieder Schmierereien zum Opfer fiel. Ein nachvollziehbarer Gedanke, jedoch mit einem entscheidenden Problem: Die Umgestaltung wurde in keiner Weise mit der Stadt kommuniziert, sodass kein Bauantrag gestellt wurde, welcher notwendig gewesenen wäre, um auf den Ensembleschutz vor Ort hinzuweisen und somit eine verträglichere Lösung zu finden.
Nun ist das Trafohäuschen auffallend blau mit den Bildnissen des Rüsselsheimer Fabrikanten Ferdinand Stuttmann und dem Strompionier Georg Simon Ohm, die beide durch offenliegende Kabel elektrifiziert werden. Alles andere als zurückhaltend und damit ein Widerspruch zur Duldung.
Die Untere Denkmalschutzbehörde reagierte und forderte eine neutrale Wandgestaltung im Sinne des Ensembles. Die Bühne war bestückt. Das Schauspiel konnte beginnen. Auftritt Wutbürger rechts.
Ein Aufschrei geht durch Rüsselsheim! Wie kann man nur gegen das verschönerte Trafohäuschen sein? Schnell wurden der Unteren Denkmalschutzbehörde Willkür nachgesagt. Deren Reaktion auf den Bruch des Denkmalschutzgesetzes am Opelplatz – welche vollkommen im rechtlichen Rahmen geschah – wurde schnell mittels der Verdrehung dieses rechtlichen Rahmens zur Nichtigkeit erklärt. Erklärungsversuchen – vor allem von mir – wurden dahingehend verdreht, dass ich mir den alten, Graffito-beschmierten Zustand zurückwünsche, weil mir die neue Gestaltung nicht gefällt. Dass die Entfernung und Anzeige von Schmierereien in der Regel bei der Eigentümerin liegen, wurde schnell zum Malus des Denkmalschutzes umgedichtet, der „ja einfach tatenlos zuschaut, wie Denkmäler verwahrlosen!“
Ein bunter Mix aus Desinformation und willentlichen Missverstehen nahm Überhand und die Untere Denkmalschutzbehörde und damit auch die Stadt Rüsselsheim flohen sich in Schweigen.
Aus dieser Situation heraus und diversen verleumderischen Aussagen mir gegenüber, entschied ich mich im Oktober 2020, mit einer Kunstaktion diesen Rechtsbruch auf die einzig rechtlich anerkannte Art aufmerksam zu machen: Mit blauen Mülltüten.
Wenige Monate zuvor verhüllte Oberbürgermeister Bausch, in Anwesenheit der Presse, Parkverbotsschilder mit blauen Mülltüten. Das Aufstellen der Schilder hatte eine ähnliche Wutreaktion ausgelöst und wurde durch die Tüten vorerst außer Kraft gesetzt. Und alle waren glücklich. Genau dieses Ziel verfolgte ich am Opelplatz.
Die Verhüllung sollte nicht-öffentlich stattfinden und nur in Anwesenheit der Presse, schließlich befanden wir uns im ersten Corona-Jahr. Große Menschenmengen galt es zu vermeiden. Dennoch wurde einige Tage vor dem Termin die nicht-öffentliche Einladung an Dritte weitergereicht, welche diese prompt in der tobenden Wutbürger-Facebook-Bubble veröffentlicht haben. Die Reaktionen waren erwartbar geladen. Man organisierte eine „Gegenaktion“, die mich bei der Verhüllung hindern sollte. Am Tag des Geschehens stand mir ein hämisches Grüppchen gegenüber, die mich die ganze Aktion auf Schritt und Tritt verfolgten, sich mir in den Weg stellten oder meine vorbereiteten Mülltüten zerrissen. Während der Ton schroffer wurde, wurden auch die Verhinderungsversuche handgreiflicher. Man versuchte mir die Latten, an denen die Mülltüten befestigt waren, aus den Händen zu reißen oder die Leiter umzustoßen, bevor ich auf sie steigen konnte. Etwas Freude bereitete mir meine Umrundung des Trafohäuschens, bei der mich drei Herren stur verfolgten.
Dann versuchte ich schneller auf die Leiter zu steigen. Es wäre ja irrsinnig anzunehmen, dass die Herren die Leiter umstoßen würden, wenn ich darauf stehen würde. Nun ja: Dachte ich.
2-3 mal fand ich mich auf dem Boden liegend wieder, auf mir die umgestoßene Leiter. Der Schubser – seines Zeichens Rüsselsheimer Stadtverordneter – keift mich an, ich hätte die Leiter auf seinen Fuß gestellt und wäre darauf gestiegen. Die Videoaufzeichnung, die die gesamte Zeit lief, zeigt aber etwas anderes: Sehr deutlich sieht man seine Versuche, sich mir in den Weg zu stellen. Der Blick geht dabei genau auf die Standbeine der Leiter und die Bewegung seiner Beine in Richtung eben dieser. Sollte da tatsächlich ein Fuß unter dieser Leiter gewesen sein – was er nicht war, es sei denn der Stadtverordnete hat sich beim Zugehen sein Sprunggelenk so gebrochen, wodurch sein Fuß im 90° Winkel von seinem Unterschenkel abstand – wurde dieser absichtlich darunter platziert.
Die Aktion wurde letztlich von der Polizei beendet. Die „Gegenaktion“ dichtete sich ihre üblichen Lügengeschichten zusammen, während ich die zerrissenen Mülltüten einsammelte. Es folgte das Gespräch mit der Polizei und der Presse. Der Presseartikel am folgenden Tag sprach sich zu meinen Gunsten aus. Während ich mir meine Prellungen und Schürfungen ärztlich erfassen ließ, um gegen den Stadtverordneten Anzeige zu erstatten. Währenddessen jubelten sich die „Trafohäuschenbeschützer“ gegenseitig in ihrer Bubble hoch.
Die Ermittlungen gegen den Stadtverordneten wurden bedauerlicherweise eingestellt, da ich auf den eingereichten Videoausschnitten „zu kontrolliert falle“ und der Beschuldigte keine Vorstrafen hatte. Der Beschuldigte soll aber „sein Fehlverhalten eingesehen haben“. Eine offizielle oder zumindest persönliche Entschuldigung habe ich bis heute nicht erhalten!
Der Rüsselsheimer Stadtverordnetenvorsteher, den ich im Nachgang auf das Verhalten seines Stadtverordnetenkollegen hinwies, sah nicht die Notwendigkeit, dieses Verhalten zu ahnden bzw. zu kommentieren und verwies auf eine gerichtliche Entscheidung. Nach der Einstellung des Verfahrens, war der Sachverhalt für ihn gänzlich vom Tisch.
Also liebe Leute, bitte merken: das handgreifliche Unterbinden der Meinungs- und Kunstfreiheit ist nur dann verwerflich, sollte es zu einem gerichtlichen Urteil kommen. Stadtverordnete besitzen darüber hinaus Persilscheine, wenn sie der erlesenden „Herrenrunde“ um den Stadtverordnetenvorsteher – und seit 2023 gescheitertem OB-Kandidaten (lol) – angehören!
Folgender Leserbrief vom mir zur konstituierenden Sitzung des Stadtparlaments und Wiederwahl des Stadtverordnetenvorstehers wurde nicht gedruckt, da ich selbst von der Sache betroffen bin:
Ein großartiges Plädoyer zum Antritt des alten und neuen ersten Bürgers der Stadt Rüsselsheim. Aussagen wie „Streiten Sie hart in der Sache und fair im Umgang“ oder „Wer aber bewusst die Würde von Personen und unserer Institution Stadtverordnetenversammlung verletzt, darf nicht mit meiner Toleranz rechnen“ zeigen klare Kante gegen die demokratiefeindlichen Tendenzen, die sich aktuell vielerorts mit der sogenannten „Querdenker“ -Bewegung wieder festigen. Umso erfreulicher, wenn sich der Oberste des höchsten politischen Organs der Stadt, diesen Tendenzen klar entgegenstellen möchte. Weitaus erfreulicher wäre es jedoch, wenn er seinen Worten tatsächlich auch Taten folgen lässt, statt sich in Schweigen zu hüllen.
Wenn ein Stadtverordneter – auch wenn er seinen Einzug ins neue Parlament verpasst hat – sich herausnimmt, eine künstlerische Meinungsäußerung willentlich zu verhindern, zuerst durch Blockade und letztlich auch handgreiflich, und der erste Bürger dieser Stadt darin keinen Schaden an der demokratischen Integrität der Stadtverordnetenversammlung sieht, stellt sich doch die Frage, wie viel Wertigkeit der Null-Toleranz-Aussage anzurechnen ist.
Wird es brenzlig wird die Verantwortung auch mal schnell auf andere geschoben. Zuerst sollte das Gericht entscheiden, welches jedoch nur dem Verdacht der Körperverletzung nachging und nicht über das Rechtens des Verhaltens des Stadtverordneten. Dann schob man die Verantwortung kurzerhand auf eine potenzielle Nachfolge im Amt.
Was bleibt, ist das Schweigen und die damit verbundene Tolerierung eines Verhaltens, dass sich ausschließlich gegen eine Person sowie die Meinungs- und Kunstfreiheit richtete. Und das großartige Plädoyer verhallt im Raum. Scheint doch die Null-Toleranz-Haltung des Herrn Grode erst ab der Stadtgrenze zu gelten.
Das Trafohäuschen ist immer noch blau. Meine letzte Anfrage zum Sachstand am Opelplatz an die Untere Denkmalschutzbehörde bleibt seit knapp zwei Jahren unbeantwortet. Der Leiterschubser hat seine Wiederwahl ins Stadtparlament verpasst – und das auch noch auf Listenplatz 1 (rofl).
Ein Positives hatte die Aktion aber (wenn auch nur mit viel Augenkneifen): Sie findet Nachahmung, wie im Sommer 2023 in Königstädten.
Und denkt immer daran: „kUnsT muSs sChöN SeiN unD dArf niChTs kOstEn!“