Rucilin bifrons – Eine Standortbestimmung in acht widerlichen Instagram-Zitaten
1.1 – I am leaving the past behind
»Kennen Sie eigentlich…Ach, die jungen Leute kennen das ja nicht mehr! Die Idiotenbahn…kennen Sie die Idiotenbahn. Wahrscheinlich kennen Sie die nicht!«
Ich kenne die Idiotenbahn, von der mir der leicht ergraute Ü50-Rüsselsheimer mit leuchtenden Augen berichten möchte. Einmal den Bogen durch die Innenstadt, an einem Ende hinein und am anderen wieder heraus, bepackt mit allerlei Dingen, die man halt so braucht: Schuhe, Schmuck, Kleidung…vielleicht ein Eis. Ich freue mich für den Herrn, wie er so erzählt, jedoch mache ich mit einem wohl zu subtilen gespielten interessierten Gesicht klar, dass ich all die Dinge, die er mir da gerade herunterpredigt, bereits kenne. Ich höre sie nicht zum ersten Mal.
Es ist irgendwann im Sommer. Angefragt wurde eine Stadtführung zu den Lebensstationen von Sophie und Adam Opel. Geburtshaus, erste Werkstatt, Marktplatz und ab zum Meister höchstpersönlich am Hauptportal. Eigentlich eine super Sache, wenn die Gruppe, die vor mir steht, eben nicht aus Rüsselsheim und Umgebung kommt. Irgendwelche Motorsportfreunde aus Westfalen oder eine Reisegruppe, die fälschlicherweise hier gelandet ist und eigentlich lieber in einer Straußwirtschaft in Rüdesheim sitzen möchte, aber nun das Beste aus der Situation macht. Es sind immer die Rüsselsheimer, die mir dieselbe Fragen stellen. »Kennen Sie noch?«, »Wissen Sie noch?« und eben »Kennen Sie die Idiotenbahn?« Am Ende steht immer eines fest: Ich bin im falschen Jahrzehnt geboren!
Die Geschäfte, von denen mir vorgeschwärmt wird, existieren nicht mehr. Da, wo man voller Stolz seine erste Schallplatte, die guten Schuhe oder den mittlerweile verlorenen Ehering gekauft hat, tummeln sich nun Gastronomen, 1€-Läden und der ein oder andere gähnende Leerstand. Den alten Glanz der Idiotenbahn sucht man vergeblich, genauso wie die Leute, die sie beschritten, …nun ja, bis auf das kleine sentimentale Grüppchen vor mir.
Dummerweise beginne ich auch damit, mich zurückzuerinnern. Wie sah die Innenstadt früher für mich aus? Immer wieder spannend war der Besuch im Karstadt, T-Shirts und Hosen gab es bei C&A, beim Hartmann wurde immer nur geschaut, Schuhe gab es bei Bach oder Birkicht, kurze Stärkung bei der Nordsee, dann weiter zum Jansen, Bücher waren eher uninteressant, zu groß war der Reiz des Spielhäuschens in der Kinderbuchabteilung. Es geht weiter, Zeeman, weil man ja schon da ist und dieser dubiose Schnick-Schnack-Laden, neben dem ehemaligen Peanuts oder war das InterSport? Dann der Heimweg, durch die Sophienpassage und um den Tag abzurunden, geht es in den Kromschröder.
Ich schüttele mich. Wahrscheinlich habe ich zu viel vermischt, andererseits will ich auch nicht noch mehr Zeit darauf aufwenden. Warum auch? Diese Zeit ist vorbei, es muss vorangehen, sowohl mit der Stadt als auch mit meiner Gruppe. Ich reiße sie aus ihren Träumen. Wir gehen die Marktstraße weiter. Mehr und mehr erkennt man den großen Klinkerbau am Ende der Straße. Erstes Fabrikgebäude, Dampfmaschine, Nähmaschine, Fahrrad, Brand. Aufbau, Auto, Verkauf, Leerstand.
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1.2 – Let’s get lost baby
Mit Beginn der Pubertät begann ich damit, das zu denken, was wohl jeder pubertierende Teenie mal denkt: »Bloß weg hier!«
Was in der Regel aus Trotz hervorgeht, kann auch durchaus aus der Umwelt hervorgehen. Ich wollte weg, weil Rüsselsheim mir wie ein asoziales Loch erschien. Alles war blöd. Nichts hatte diese Stadt zu bieten. Was sie bieten sollte? Keine Ahnung. Aber hier war es nicht zu finden. Die Erkenntnis das diese Einstellung haltlos war, kam erst mit den Jahren. Man traf sich zum Kicken und sprach darüber, was man alles machen will, wenn man erstmal hier weg ist. Ehe man sich versah, war man Mitglied einer politischen Jugendorganisation und wollte sich für die Stadt einsetzen, die man noch zwei Jahre zuvor verflucht hatte.
Der anfängliche Trotz war bald verflogen und vergessen. Nach dem Abitur geht es nach Mainz an die Uni. Man wohnt in Rüsselsheim, studiert jenseits des Rheins und einmal die Woche trifft man sich abends und spricht darüber, was in dieser Stadt passiert und wie man – oftmals nicht ganz nach Handbuch – das politische Parkett dieser Stadt zum Beben bringen könnte. Haushaltsloch und Verschuldung? Da können die Stadtparlamentarier doch mal mit gutem Beispiel vorangehen und auf ihre Aufwandsentschädigung verzichten. Die Pressemitteilung ging raus. Die Reaktionen: Allgemeine Erheiterung und ein Parteichef, der, sowohl lachend als auch leicht erschüttert, unseren Wagemut lobt. Am Ende verzichtet keiner auf seine Entschädigung.
Trotz dieses Rückschlags geht es weiter. Hier eine Demo gegen Rechts, da ein Fußballturnier für den guten Zweck und das ein oder andere Sommerfest. Ich, mittlerweile zum Vorsitzenden unserer kleinen Polit-Gruppe gewählt, gehe weiter meine Wege. Studium, Politik, Rüsselsheim. Wider Erwarten hält der Punkt Politik aber nicht mehr lange. Neuer Vorstand im Unterbezirk. Auf eine Macht-doch-was-ihr-wollt-Mentalität folgt eine Führung mit ganz vielen neuen und tollen Ideen. Schnell steht fest: Wir stehen diesen Ideen im Weg. Die Kommunalwahl steht an und allmählich werden die Wahllisten aufgestellt, dabei dürfen natürlich frische Jungpolitiker nicht fehlen, wir sind jedoch damit beschäftigt unsere Gruppe vor der Zwangsauflösung zu retten. Zugunsten einer überregionalen Gruppe soll unsere weichen. Wir haben eigentlich wenig dagegen. Wir fordern lediglich, die neuen Interessenten vorher zu treffen. Die haben aber keine Zeit. Über sechs Wochen.
Ich bekomme einen Anruf in der Uni. Wir werden vor die Wahl gestellt: Entweder wir lösen uns freiwillig auf und spielen den Wink-August für die neue Gruppe oder wir werden Zwangsaufgelöst und müssen mit der Schmach leben. Wir sind uns einig. Es soll knallen, wenn wir gehen. Wir verweigern die freiwillige Auflösung und überlassen dem Unterbezirk die Papierarbeit für ein Prüfungsverfahren, das wahrscheinlich nie eingeleitet wurde. Zusätzlich treten wir geschlossen aus der Partei aus. Am Ende liegen drei Parteibücher auf dem Tisch und sechs Jungpolitiker verabschieden sich in den politischen Untergrund. Die Parteispitze ist verwundert. Man wusste von nichts. Bei der Neugründung der neuen Gruppe in Kelsterbach bin ich als Gast anwesend. Junge Gesichter. Kräftige Arme und saubere Zähne. Die können sicher besser winken als ich. Ich frage nach dem Stand des Prüfungsverfahrens und bekomme keine Antwort. Man wählt einen neuen Vorstand. Hinterher gibt es Chili con Carne. Ich fahre nach Hause. Während der Fahrt fällt mir ein, dass die Bischofsheimer Gruppe nie unser Atomfass zurückgegeben hat. Schade, dass hätte ich gerne mitgehen lassen.
Die Kommunalwahl kommt und statt meinem steht ein anderer Name auf der Wahlliste der Partei. Ich überfliege in der Wahlkabine die Namen auf dem riesigen Zettel. Verteile meine Kreuze auf diejenigen, denen ich zutraue, dass sie die Stadt nicht noch kaputter machen. Naja. Ich werde keinen Platz im Rathaus einnehmen, dafür bin ich um so manche Erfahrung in der Kommunalpolitik reicher. Weg von hier, will ich jedoch nicht mehr. Rüsselsheim hat sich mir ins Herz gebrannt, nicht, weil alles super ist, sondern weil man sich sicher ist, dass man aus diesem kleinen verwahrlosten Welpen, doch noch einen lebensfrohen Gefährten machen kann. Mein Fast-Platz im Rathaus hat nicht lange Bestand. Bis heute wurde er gefühlt dreimal weitergereicht.
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2.1 – As your scent fades from my bed so too the memory of your kiss fades from my lips
Noch während des Studiums beginne ich damit für das hiesige Museum Führungen anzubieten. Erst Ausstellung, dann Festung, Verna-Park, Stadt usw. Rüsselsheim wächst mir weiter ans Herz, nicht mehr nur aufgrund von Kindheitserinnerungen und meinem politischen Exkurs, sondern nun auch aufgrund der Historie. Ich studiere Geschichte, Philosophie und Pädagogik, warum also nicht Geschichte vermitteln und dabei zum Nachdenken anregen?
Mit der thematischen Erarbeitung und Recherche kommt nach und nach das Verständnis für diese schon fast wehmütige Nostalgie, die aus den Menschen in der Stadt hervorquillt. Es ist erstaunlich, welchen Stand diese Stadt in der Republik hatte. Opel brachte das Geld nach Hause und die Stadt gab es in alle Richtungen aus. Hier ein Theater, da ein Schwimmbad. Ein Wohnblock folgt auf den anderen. Die Leute strömen in die Stadt und mit ihren saftigen Gehältern kommt der Konsum. Man fährt Auto – natürlich Opel –, der Sohn folgt auf den Vater, der wiederrum es seinem Vater nachtat. Man ist eine große Familie. Das ist nichts Neues. Bereits zu Adams Lebzeiten legte man großen Wert auf den familiären Charakter der Firma.
So schön das alles auch klingen mag, die Realität zeigte sich bereits. Schon in den 60er Jahren ist die enge Verzahnung von Firma und Stadt ein Thema. »Rüsselsheim ist Opel und Opel ist Rüsselsheim«. Eine Aussage, die bei heutigen Besuchergruppen ein schon fast seliges Lächeln und ein zustimmendes Kopfnicken verursacht, muss man als böses Omen der Vergangenheit verstehen. Spätestens ab den 90er Jahren geht es bergab. Mit Opel stürzte auch die Stadt bzw. was bis dahin noch von ihr übrig war und aus der Aussage aus den 60ern wurde ein verhängnisvoller Orakelspruch.
Was der Sturz nicht so ganz zu zerschmettern vermag, ist das unabdingbare Festhalten an den Goldenen Zeiten. Entweder man geht nun mit geschlossenen Augen durch die Stadt oder meidet sie komplett.
Ich bin ein Kind der 90er, ich kannte Rüsselsheim so gesehen nicht anders. Das Wenige, das es noch gab, verschwand einfach, mal schmerzlich und mal weniger. Mit der Wirtschaftskrise und zunehmend unsicheren Lage Opels, empfand ich auch zum ersten Mal die Angst, was kommen wird, wenn das Werk mal nicht mehr ist. Bochum und Antwerpen lagen plötzlich direkt vor der Haustür.
Der große Knall kam nicht. Dafür Unsicherheit und eine Stadt, die mangels Alternativen diese Unsicherheit im Stadtbild aufnahm. Vor diesem Stadtbild stehe ich also und vor mir eine Gruppe aus Ludwigshafen. »Schaut ja hier fast aus, wie bei uns«. Vielleicht Was-wäre-wenn-Tourismus. Einige Wochen später explodiert eine Rohleitung bei der BASF.
Rüsselsheim sinkt weiter ab, aber niemand stört sich groß daran. Die Innenstadt wird gemieden, da, wo man früher die Idiotenbahn abgelaufen ist, sitzen nun die »Anderen«, die deutlichsten Spuren des industriellen Aufschwungs in Rüsselsheim. Nachfolgegenerationen der Gastarbeiter, die hierherkamen, zu Kollegen wurden. Nichts Ungewöhnliches. In der Grundschule starrte man wie gebannt auf den Globus im Klassenzimmer auf dem gerade Mitschüler und Mitschülerinnen mit dem Finger auf ihr jeweiliges Heimatland deuteten. Türkei, Marokko, Griechenland, Mazedonien, Serbien. Viel bedeutet hat das nichts. Geboren wurden wir alle in Frankfurt, Mainz…und Rüsselsheim.
Ich besuche einen Freund in Mainz. Er ist von Rüsselsheim nach Mainz gezogen. Er studiert in Frankfurt und arbeitet in Bischofsheim. Damit wird er nicht allein bleiben.
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2.2 – You will receive power when the holy spirit has come on you
Viel Weltbewegendes ist nicht passiert. Ich fahre nach Mainz zum Studieren. In Rüsselsheim werde ich regelrecht zum Inventar des Museums und betreue im Wintersemester die KinderUni auf dem Rüsselsheimer Campus. Ich schreibe meine Bachelorarbeit. Natürlich über Rüsselsheim. Wie bekommt man Leute in ein Museum und wie schafft man es, dass möglichst viel hängen bleibt. Ich bestehe, bin ab sofort Bachelor of Education und studiere weiter.
In der Stadt herrscht Aufbruchstimmung. Im halben Innenstadtgebiet sind die Straßen aufgebrochen worden. Leitungen werden erneuert und Plätze neugestaltet. Der Hessentag kommt nach Rüsselsheim. Ein Landesfest bei dem Kommunen eine Finanzspritze bekommen, für zehn Tage Gaudi haben und am Ende nie ohne Minus unter dem Strich herauskommen. Was bleibt ist ein Imagegewinn, der alles wieder wett macht. Rüsselsheim will das Unmögliche schaffen: Kostenneutralität. Daraus wird nichts. Niemand scheint aber wirklich erbost darüber. Der Oberbürgermeister wird zwar abgewählt, fällt aber bequem flussabwärts nach Wiesbaden. Diese Wahl spaltet die Stadt. Die eine Hälfte klatscht Applaus, die andere auf die Schenkel
Ich bin ehrlich. An dem Minus bin ich nicht ganz unbeteiligt. Ich und ein Kollege bieten an jedem der zehn Tage jeweils eine Führung durchs Museum und die Festung an. Die Gruppen sind überschaubar. Der Grund ist mit großer Wahrscheinlichkeit das Wein- und Vereinsdorf direkt vor der Festung. Alkohol zieht immer. Manchmal sind wir allein. Bezahlt werden wir trotzdem.
Tagsüber bin ich in der Stadt. Erst Festung, dann Hessentagsstraße, dann wieder Festung. Eine große Runde, Bundeswehrsoldaten böse angucken, Thomas Ranft mal in personam sehen, kleine Pause bei Oma im Wohnzimmer mit Fliesentisch. Mittlerweile schon ein, zwei Bier getrunken, ich treffe Freunde, alte Weggefährten und meine Eltern. Wir gehen zum Vereinsdorf und bald darauf wieder nach Hause. Draußen im Garten schallt die Hessentagsarena. Es dröhnt und ich verstehe nicht viel. Am nächsten Tag erfahre ich, dass es die Scorpions waren.
Der Hessentag geht zu Ende und der Zauber verfliegt recht schnell. Einzig die Reste von »Natur auf der Spur« deuten auf das Fest hin…ach ja, und das Defizit in der Stadtkasse. Man feiert den Erfolg. Versprechen geben und nicht halten ist kommunalpolitisch verzeihbar, solange es etwas zu feiern gibt. Den Streit überlasse ich den Verantwortlichen…und Facebook. Mein Interesse wird von einem neuen Phänomen geweckt.
Im spätromantischen Verna-Park hatte man zum Hessentag tonnenweise Holzsplit verteilt und das Weindorf sowie das Kinderdorf hineingesetzt. Nach dem Fest versammelte sich dort eine lustige Truppe zum Weintrinken und feierten die Wiederentdeckung des Parks. Ich freue mich darüber, bin einige Male vor Ort. Hey, der versprochene Imagegewinn scheint tatsächlich gewirkt zu haben. Ich spreche mit meiner Chefin darüber und nehme sodann Kontakt mit den Organisatoren auf. Es gibt einige Führungen zur Geschichte und Philosophie des Verna-Parks. Immer im Vorfeld zur Weintrinkveranstaltung. Das Konzept ist klar: Erst Kulturgeschichte, dann Trinken. Zum Abschluss der Führungen stehe ich mit der Gruppe im Musikpavillon im Park und rede ein wenig über romantische Philosophie und die persönliche Eigenverantwortung. Bei der zweiten Führung regnet es ein wenig. Im Pavillon haben sich schon einige Weintrinker eingefunden. Ich stelle mich mit meiner Gruppe unter den Pavillon und beginne zu reden. Freundlicherweise macht man die laufende Musik aus. Während ich rede, schaut mich ein grauhaariger Mann aus seinem Campingstuhl nur böse an. Virtuell begegnen wir uns wieder. Wir werden keine Freunde.
Bereits während der Führungen und spätestens ab den bösen Blicken des grauhaarigen Mannes, wurde mir die gesamte Angelegenheit im Park immer suspekter. Man betonte recht deutlich die »Wiederentdeckung« des Verna-Parks. Doch nachdem die Diskussionen, ob es nun der Verna-Park oder Stadtpark sei, immer häufiger auftraten, schaute ich mir die Sache nochmal genauer an. Bis hierhin dachte ich, dass mit der »Wiederentdeckung« die historische und kulturelle Bedeutung gemeint war. Es stellt sich jedoch heraus, dass die meisten tatsächlich die physische Existenz dieses Ortes meinen, so als wäre die Mauer des Parks an der Frankfurter Straße zwar bekannt gewesen, man dahinter aber direkt den Main vermutete. Ich war am Boden zerstört.
Die Fronten verhärteten sich. Neben der wehmütigen Rückbesinnung auf das frühere goldene Rüsselsheim, kamen die Erinnerungen an den Hessentag hinzu. Feierlaune rückte nach oben auf der Agenda. Bald stand am Mainvorland eine kleine Holzhütte.
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2.3 – Showing off is he fool‘s idea of glory
An einem Weinstand ist in erster Linie nichts Verwerfliches zu finden. Jedes Flussörtchen mit nur etwas Uferpromenade hat einen. Man trifft sich dort. Hat Spaß. Wenn es gut läuft, ist man demografisch durchmischt. Was kann man also diesem kleinen Hüttchen am Wasser vorwerfen?
Seine Bedeutung! Das Prinzip ist einfach: Hingehen, bestellen, trinken, reden, heimfahren. Doch was passiert, wenn seine Bedeutung über dieses Prinzip hinausgeht? Man hat es geschafft innerhalb von zwei Jahren einen regelrechten Mythos zu schaffen. Auf einmal ist alles möglich. Auf einmal kommen alle zusammen. Auf einmal scheint die Stadt gerettet. Doch, wo fängt die Stadt an und wo hört der Mythos auf. Ich lese viel, was auf Facebook so alles passiert. Ich nutze die Seite in erster Linie dazu Werbung zu machen, Veranstaltungen anzukündigen. Aber auch hier hat der Mythos sich bereits festgesetzt. Man ist glücklich. Über das, was man da auf die Beine gestellt hat. Gleichzeitig lässt man sich köstlich über den »sozialen Niedergang« der Stadt aus. Der neue OB wird stetig mit dem altem verglichen, für alles verantwortlich gemacht. Man macht Witze über seine Krawattenwahl und seine Abwesenheit in den sozialen Medien. Gleichzeitig fordert man in Diskussion mehr Sachlichkeit ein. »Verrückte Welt« denke ich mir und beteilige mich bei den Diskussionen. Zustimmung hält sich jedoch bedeckt.
Man hat sich eine Blase geschaffen, eine Enklave im sonst so asozialen Rüsselsheim. Da sind »Wir« am neuen Herz dieser Stadt und abseits davon sind »Die«: Die Messerstecher, die Familienclans, die Miesepeter und Politiker. Neu ist das nicht. Blasen gab es schon immer in Rüsselsheim. Die gesamte Stadt ist ein regelrechtes Geflecht aus Blasen, zusammengehalten von einem wirren Straßennetz. DAS Rüsselsheim existiert letztendlich nicht. Dazu vielleicht ein historischer Exkurs:
Die ursprüngliche Siedlung Rüsselsheim lag dort, wo man heute die Festung findet. Mit dem Ausbau des Festen Hauses der Grafen von Katzenelnbogen zur Festungsanlage musste das Dorf weichen. Man verlagerte es in Richtung des heutigen Marktplatzes, wo es sich nach und nach ausbreitete. Im Norden begrenzt vom Main wuchs das Dorf im Süden bis zur heutigen Bahnlinie, im Westen bis zur heutigen Vollbrecht- bzw. Engelhardtstraße und im Osten bis zum heutigen Friedensplatz an. Im Osten grenzte der ab 1850 entstandene Verna-Park an das Dorf, daran wiederum die Festung. Dann kamen Opel und die Industrialisierung. Im Westen entstand das Werk und das Rüsselsheimer Westend. Im Osten das Geiersbühl. Bis hierhin eigentlich eine typische Stadtentwicklung. Wie bei einer Zwiebel wächst Schicht für Schicht ein Stadtteil nach dem anderen um den alten Ortskern. Schaut man sich nun den Rest der Stadt an, fallen zuerst die großen Hauptstraßen auf, die die Stadt durchziehen. Ebert- und Böllenseesiedlung wirken in sich geschlossen, genauso der Ramsee, das Berliner Viertel und und und. Die deutlichste Ausformung dieser Inselhaftigkeit sieht man in Haßloch-Nord, ein Stadtteil, der komplett am Zeichenbrett entstanden ist. Natürliche Formen, Ärzte, Schule, Kindergarten und Einkaufszentrum, alles vorhanden. Der ganze Stadtteil ist zu Fuß begehbar, ohne dass man eine große Straße überqueren muss. Das sind keine zufälligen Strukturen, sondern gezielte Stadtplanung. Stadtteile wurden voneinander separiert gebaut, für sich fast autark existierend. Alles zum Nutzen des Werks. Rüsselsheim erinnert nicht an eine Zwiebel, sondern an eine Traubenrispe. Einzelne Früchte verbunden über dicke und dünne Seitenachsen. Durchaus funktional, doch die Funktion ist schon lange verschwunden. Es bleiben viele kleine Blasen, die sich zwar alle denselben Stamm teilen, aber alle sich selbst als dessen Wesen verstehen. Wo liegt also das wahre Rüsselsheim? Überall und nirgends!
Welche Rolle spielt aber nun der Weinstand? Seine Gesellschaft ist verschlossen. Jeder kann zwar jederzeit hinein, den Weg dorthin muss man jedoch selbst finden. Mundpropaganda hat stark zum Wachstum der Gemeinschaft beigetragen, aber darüber erreiche ich nicht jeden. Die Hütte ist gewachsen und hat Gesellschaft bekommen. Es gibt musikalisches Programm. Man ist vorzeigbar. Aber worin liegt nun das Problem?
Man denkt zu groß und zu bedeutend! Großes Vorbild sind selbstverständlich die Weinstände im Rheingau. Regelrechte Institutionen. In Rüsselsheim denkt man gerne groß, selten zum eigenen Vorteil. Diese scheinbare Größe spiegelt sich letztendlich in der eigenen Bedeutung wider. Man ist das neue Rüsselsheim! Man ist die Stadt. Man trifft Entscheidungen, kritisiert und verhöhnt. Man gibt den Ton an. Man selbst ist das Selbstverständnis dieser Stadt. Es schwingt ein gewisser Hochmut mit: Man beschwert sich über Radfahrer, die an der Weingesellschaft vorüberfahren und wird sich dabei nicht gewahr, dass der Weinstand auf einem Radweg steht…und der Radweg war zuerst da. Außenstehende müssen ZUM Weinstand kommen, der – neben Facebook – zum alleinigen Diskussionsforum erhoben wird. Und obwohl man so groß und bedeutend denkt, hält man sich absichtlich klein. Andererseits stünde da zuvorderst die Selbstreflexion mit der Erkenntnis: Man bildet nicht die Stadt ab! Hier sind einige hundert, dort aber mehrere tausend! Man müsste an die Grenzen seiner Blase gehen, diese ggf. erweitern. Oder die Blase platzen lassen und den unzähligen anderen dasselbe Schicksal bereiten.
Ich wurde mal nach konstruktiven Lösungsansätzen gefragt, die diese Inselhaftigkeit des Weinstand auflösen könnte. Meine Antwort war recht unkompliziert: Macht einen Weinstand am Berliner Platz oder dem EKZ Haßloch-Nord. Bringt die Veranstaltung mal in den Dicken Busch oder den Hasengrund. Trefft euch mit Picknickdecke und -korb im Ostpark. Rüsselsheim besteht nicht nur aus den 250m zwischen Marktplatz und Mainvorland! Dahinter geht es noch weiter.
Kurzerhand wurde meinem Vorschlag die Konstruktivität abgesprochen und als leere Luft deklariert. Dieser Vorgang lässt sich des Öfteren beobachten. Das Contra hat nicht lange bestand, ist schnell haltlos und lächerlich. Die Blase schirmt sich ab.
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2.4 – It’s not whether you get knocked down, it’s whether you get up
Fest steht: Rüsselsheim ist nicht mehr wie früher. Das heißt aber nicht, dass es heute schlechter ist als damals. Es ist anders. Jegliche Entscheidung in dieser Stadt wird unter dem Aspekt des Früher getroffen. Dabei schwingt auch immer der Versuch mit, das Früher im Heute wieder zu etablieren. Der Historiker in mir entgegnet dem: Die Vergangenheit wiederholt sich nicht, sie ähnelt sich nur. Soll heißen, dass man die neue Situation nutzen sollte, nicht das Alte vergeblich wiederzubeleben, sondern etwas Neues zu schaffen. Das Potenzial hierfür ist vorhanden, nur durch diverse Blasen außer Gefecht gesetzt.
Diese Stadt ist katastrophal zu Boden gestürzt und muss sich wieder berappen. Wieder auf die Beine finden und Schritt für Schritt wieder zu sich selbst finden. Ganz ohne wehmütige Nostalgie. Zielgerichtet auf etwas Neues und Anderes. Opel wird in nächster Zeit keine großartigen Erfolge verbuchen, die auch der Stadt zugutekommen. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass von heute auf morgen die entscheidende Wohltat kommt.
Einem Weiterkommen steht jedoch die Blasenstruktur der Stadt im Weg, gesellschaftlich wie auch politisch. Der neidvolle Blick geht immer in Richtung der Nachbargemeinden. Zurecht, jedoch nur wenn man allein bedenkt, dass sich diverse Schlammschlachten dort nicht abspielen. Kein wankelmütiges Stadtparlament. Keine Tagesthemenbehandlung, die allein in den sozialen Medien stattfindet.
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3.1 – Real is rare. Fake is everywhere
Rüsselsheim ist groß und es wert, mal genauer betrachtet zu werden. Der berüchtigte Blick über den Tellerrand ist gefragt. Über das Mainvorland und den Marktplatz hinaus. Man muss in die Stadtteile gehen und alle ins Boot holen. Ein Wir-gegen-Die-Denken nützt in der aktuellen Situation nicht. Man muss die Frage stellen, warum sich das Publikum des Weinstandes, nur aus einer kleinen Schicht zusammensetzt. Wie holt man Abgehängte ein?
Rüsselsheim hat gewaltiges Potenzial, es fehlt nur an Weitsicht. Man begrenzt sich selbst auf seine kleinste Blase und schafft sich stetig neue, die sich in ihrem Alleinstellungsanspruch immer wieder versuchen zu überbieten. Die Inselhaftigkeit dieser Stadt, die sich nicht nur städtebaulich, sondern auch gedanklich wiederfindet, muss aufgebrochen werden. Das langfristige Ziel muss es sein, statt vieler kleiner Rüsselsheime, ein einzelnes zu schaffen, in dem nicht die einzelnen Blasen den Interessenskern bilden, sondern die gesamte Stadt. Hierbei gilt es vor allem ein Umdenken zu bewirken.
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3.2 – Hold doors open for others
Als ich allmählich darauf zulief meine Masterarbeit zu schreiben, befand ich mich natürlich erstmal in der Findungsphase für ein Thema. Ich wollte über Rüsselsheim schreiben, am liebsten über Erinnerungskultur. Zum Glück veröffentlichte zeitgleich ein Rüsselsheimer Fotokünstler ein selbsterstelltes Kunstkataster. Ich nutze die Chance nehme den Kontakt auf, frage, ob ich sein Kataster in meiner Arbeit behandeln darf. Er willigt ein.
Ich schreibe meine Arbeit, mache eine Umfrage, gebe ein Interview in der Zeitung. Ich bestehe und verlasse die Universität als Master of Education. Der Kontakt zum Fotokünstler bleibt erhalten. Eine Gruppe Studierender soll seinem Kunstkataster den wissenschaftlichen Anspruch geben. Die Gruppe kommt samt Professor nach Rüsselsheim. Ich führe sie durch die Stadt. Dieser Kontakt besteht weiterhin.
Im Winter gründen diverse Kulturschaffende einen neuen Verein, darunter auch der Fotokünstler. Sie werden stark kritisiert. Der Ritterschlag. Ich melde mich. Man setzt sich zusammen, verfolgt Ziele, will Neues ermöglichen und Altes abschütteln. Blasen zum Platzen bringen. Und vielleicht… vielleicht singt Harald Juhnke am Ende:
Mensch Berlin, was bist du groß geworden
Aus der Insel wurde wieder’n festes Land
Plötzlich gibt’s die Ostsee da im Norden
Und der Wannsee hat von beiden Seiten Strand
»Kennen Sie eigentlich die Idiotenbahn?«
Die Ästhetik des Hässlichen – Ein Spaziergang auf Granit
Wann ist etwas schön? Wann hässlich? Ist Kunst immer schön? Oder kann sie auch hässlich sein? Während des Philosophiestudiums habe ich mich nie wirklich mit Ästhetik auseinandergesetzt. Sie war mir zu verkopft und starr, zu zwanghaft in irgendein Konzept verpackt. Was mich jedoch immer wieder fasziniert hat, waren die typischen Kommentare der Kunstbetrachtenden. Dieser kleine Funken in ihren Augen, wenn sie voller Überzeugung und Inbrunst, die Worte aussprechen, die vor Originalität nur so strotzen: „Ist das Kunst oder kann das weg?“ Gefolgt von einem verschmitzten Lächeln, ergibt sich daraus der größte Affront, den man der Kunst entgegenbringen kann. „Kunst“ und „Schönheit“ werden gleichgesetzt, der Künstler dazu verdammt etwas Schönes zu schaffen, damit er sein Künstlersein nicht verliert. Das ist so, als würde man die Arbeit des Zimmermanns nur auf das Einschlagen eines Nagels reduzieren.
Warum mich nun dieses Thema so reizt? Die grundliegenden Fähigkeiten des Menschen sind das Erschaffen und das Vernichten. Er schafft Begriffe und Zuordnungen und verwirft diese wieder, um neue zu schaffen – Nietzsche beschreibt dies als die Umwertung aller Werte. Dieser Vorgang ist wiederholend, ob nun kreis- oder spiralförmig spielt keine Rolle. Ein Begriff A kann heute etwas anderes meinen als morgen. Stillstand ist hier nicht vorgesehen. Nun ist es so, dass an die Kunst zu keiner Zeit der Anspruch der Schönheit gestellt wurde. Schönheit ist stets etwas Subjektives und Emotionales. Die Wissenschaft kann zwar ihre Phasen beschreiben, aber nur schwer ihr Wesen. Und es genügt allein der Blick zurück, um die Wechselhaftigkeit des Schönheitsbegriffes zu erkennen. Die Kunst selbst ist in ihrem Kern frei von Wertungen. Sie kann zwar als gut oder schlecht beschrieben werden, aber damit meint man doch letztlich nur ihre Funktionalität, wenn es z.B. um die Handwerkskunst geht, oder ihre Schönheit, die allzu subjektiv und wandelbar ist. Kunst ist nicht schön, sie kann schön sein. Genauso kann sie hässlich und schlecht sein, doch es ändert nichts an ihrem Kunstsein. Sie muss nicht gefallen.
Die Aufgabe des Künstlers liegt demnach nicht darin, das Gefallen seiner Mitmenschen zu erlangen – es sei denn, er betreibt seine Kunst allein aus dem Grund, davon zu leben –, vielmehr geht er den urmenschlichen Aspekten des Erschaffens und Vernichtens nach. Der Künstler bricht Regeln und schafft sich neue, die genauso wandelbar und vernichtbar sind. Seine Kunst muss nicht verstanden werden, um Kunst zu sein.
Letztendlich verfolgt auch das Hässliche eine Ästhetik und hat sein Daseinsrecht, ob nun als Erinnerung an das Schöne oder die Veränderlichkeit der Welt, als Mahnung an vergangene Deutungen oder schlichtweg, um Abscheu auszudrücken.
Vor dem Abgrund liegt die Nostalgie – Oder: Warum Rucilin lahmt
„Der kleine Rüsselsheim“
Es kommt nicht häufig vor, dass man mich gezielt auf irgendwelche Facebook-Beiträge aufmerksam macht. Wenn es aber geschieht, dann steht eines fest: Es wird mir nicht gefallen. Einer dieser Beiträge erzählt die Geschichte des „kleinen Rüsselsheim“, einem frohlockenden kleinen Knaben, der zum Spielball falscher Freunde wird und letztlich daran zugrunde geht. Gespickt mit kleinen historisierten – und zutiefst verkürzten und verfälschten – Andeutungen, die entweder das Geschriebene verstärken oder romantisieren sollen. In märchenhafter Manier wird eine Geschichte erzählt, deren Intention eine sehr vertraute Kontinuität fortführt: Zuerst war der kleine Rüsselsheim ein hübscher Bengel, dann ein stattlicher Mann und schließlich ein gebrochener Schatten seiner selbst. Und natürlich ist der kleine Rüsselsheim ein unverschuldetes Opfer der Anderen, die Böses und Abstieg hervorbringen.
Gaudete, Rucilin natus est! Der kleine Rüsselsheim lässt sich am Main nieder und baut sich sogar eine Festung und lebt ein vergnügtes Leben. Bei Führungen durch besagte Festung, spielte der irreführende Name „Festung Rüsselsheim“ immer wieder eine Rolle. Die implizierte Gemeinschaft aus Dorf und Festung hat in dieser Form nie existiert. Vielmehr machte die Festung das vergnügte Leben des kleinen Rüsselsheim zur Zielscheibe von Plünderung und Verwüstung. Zuflucht wurde nur im Schutze der Kanonen gewährt, heißt gedrängt an die Eskarpe des Festungswalls. Und dann ist nicht mehr viel passiert, bis endlich der Schlossermeister seinen Auftritt hat und die Chroniken des kleinen Rüsselsheim erst beginnen lässt.
Der Schlossermeister-Messias bringt paradiesische Zeiten. Der kleine Rüsselsheim baut Nähmaschinen und Fahrräder. Nicht mal ein Feuer hält ihn von seiner Blüte ab. Nein, er bändigt das Feuer sogar in motorisierten Wunderwerken. Arbeiter werden zu Freunden und der kleine Rüsselsheim bringt fabelhafte Tempel hervor. Im Wolkenkuckucksheim tanzen die Freunde im Reigen.
Doch wo die Freude floriert, bahnt sich das Böse einen Weg. Ein vermeintlicher Freund übernimmt die stattliche Firma. Warum? Das kann wohl niemand sagen. War es ein verwegener Plan, um Chaos zu stiften? Widerstrebte dem falschen Freund die Gemeinschaft? Blendete er die unschuldigen Söhne des Messias in deren Verderben? Die Antwort vermag uns der kleine Rüsselsheim nicht geben. Doch eines lässt sich mit Gewissheit sagen: Ein Zeck hat sich eingenistet und der einst stattliche junge Mann, wurde faltig und gebeugt. Der kleine Rüsselsheim verliert nicht nur seine Wegbegleiter, sondern auch seine Stimme. Der falsche Freund gibt nun den Ton an und nun bringt er auch noch die Anderen in das beschauliche Heim am Main. Können sie denn auch Freunde sein? Unvorstellbar! Sie blähen den kleinen Rüsselsheim auf, der schnell nicht mehr weiß, wo er anfängt und wo aufhört. Er schafft es nicht mal mehr den Freunden den Weg zu seinen Tempeln zu weisen, deren goldenen Pforten allmählich Rost ansetzen. Die Götter der Anderen liegen im Süden, wo doch die Jugend des kleinen Rüsselsheim im Norden liegt.
Mit Tränen in den Augen, beginnt der kleine Rüsselsheim nun zu essen an. Immer fülliger und unförmiger wird er, merkwürdige Gefäße durchziehen seinen Körper und Galle füllt seine wuchtigen Gefilde. Die Freunde blicken mit Schrecken auf den einst Stattlichen und stehen machtlos vor den verwaisten Tempeln des Nordens. Sie trifft keine Schuld. Der falsche Freund, die Anderen haben mit barbarischer Wollust Ymirs Schädel ausgehöhlt und deren Götzen unter seinem zerfetzten Hirn platziert. Die Freunde stehen im Schildwall vor den Horden der Anderen. Eine ausweglose Situation. Doch die Güte reicht stets der Freundschaft die Hand. Auch die Nornen kann man töten! Die Sagas werden Hallen füllen! Valhall wird in Midgard sein! Ragnarök für Rucilin!
Was mich am meisten an dieser harmlos wirkenden Geschichte erschüttert, ist, wie leicht sie von den Lippen geht. Es schwingt der Dolchstoß mit. Sie spielt mit Emotionen. Ja, vielmehr funktioniert sie nicht ohne dieses Gefühl des hoffnungslosen Fatalismus. Sie weckt Sehnsucht nach alten Zeiten und zieht einen roten Faden durch das wirre Geäst der Vergangenheit. Sie ist nostalgisch.
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Der kausale Fehlschluss
Ist Geschichte die Erzählung einer vergangenen Kausalkette von Ereignissen, die sowohl Anfang und Ende hat und beliebig an einer Stelle durchtrennt werden kann, sodass eine völlig neue Kausalkette entsteht, wenn man an dieser Stelle eine Änderung vornimmt? Jeder kennt das Beispiel des Zeitreisenden, der in der Vergangenheit einen Schmetterling tötet und damit die Zukunft aufs gravierendste verändert. Was mich daran immer irritiert hat, ist der Umstand, dass hier davon ausgegangen wird, dass dieses Ereignis einen solchen Impakt auf die Zukunft haben kann. Es impliziert, dass die Vergangenheit aus einem kompakten Strang von Abläufen besteht, dessen möglichen Verläufe so gering sind, dass nur der Tod eines Schmetterlings, diesen Strang in völlig neue Bahnen lenken kann. Das würde einen zutiefst begrenzten Fatalismus bedeuten, so dass es nur wenige Entscheidungen im Leben gibt, die dieses tatsächlich verändern. Nein, die Vergangenheit ist kein einzelner Strang, sondern ein breites Geflecht aus Linien. Selbst wenn eine durchtrennt wird und einen anderen Verlauf nimmt, bleiben die anderen in ihrer Bahn. Aus dem Schmetterling wird ein Ereignis von tausenden. So hat am Ende ein toter Schmetterling wenig Einfluss auf die Zukunft, zehntausende aber umso mehr.
Was ich damit sagen möchte, ist, dass es die großen Schlüsselereignisse in der Vergangenheit nicht gibt. Sie werden durch das breite Geflecht nichtig. Das Stauffenberg-Attentat verfolgte nicht nur die Tötung Adolf Hitlers, sondern einen gesamten Regierungsumsturz. Ein toter Hitler am 20. Juli 1944 hätte nicht das Ende des Dritten Reichs oder des Zweiten Weltkriegs bedeutet. Zu schnell gelangt man an einen kausalen Fehlschluss: Ein A allein führt nicht zu B. Eine Entscheidung besiegelt noch keine Zukunft.
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Die Melancholie der Romantisierung
Die Nostalgie jedoch verleitet zu einem solchen Fehlschluss. Sätze wie „Hätte man doch…“ oder „Wenn dies nicht geschehen wäre…“ gehören zu ihrem Repertoire. Sie geht in der Annahme, dass eine einzelne Entscheidung dazu geführt hätte, dass ein vergangener Zustand zu Ende ging. Dieses Ende ist in der Regel negativ, das vergangene positiv. Die drei Zeitdimensionen bekommen eindeutige Wertungen. Die Vergangenheit war gut, die Gegenwart ist schlecht und die Zukunft muss wieder gut werden, wobei beim zukünftigen „gut“ das „gut“ der Vergangenheit gemeint ist. Man erhofft sich die Rückkehr des vergangenen guten Zustandes wieder, ohne aber einen Gedanken daran zu verlieren, ein neues „gut“ zu schaffen. Man möchte das vergangene „gut“ zurückholen, indem man es imitiert, sich Teile davon ins Jetzt holt und auch versucht, die Fehler ausfindig zu machen, die das vergangene „gut“ beendet haben.
Diese Fehlersuche ist auf zweierlei Weisen bedenklich. Zum einen sucht sie den Fehler nicht beim Suchenden selbst, da dieser ja selbst die Notwendigkeit nach der Suche erkennt und somit zum Verfechter des vergangenen „gut“ wird. Zum anderen findet keinerlei Reflexion des Vergangenen statt. Das Objektive weicht dem Subjektiven. Es findet eine Romantisierung und Idealisierung der Vergangenheit statt, die keinerlei Kritik zulässt. Und damit sind die Spielregeln gesetzt: Ziel ist es, den einen Fehler zu finden. Kritik bleibt angesichts der noblen Sache unbegründet und schuld an der ganzen Misere, sind natürlich die Anderen, die Feinde, die aus dem Guten das Schlechte gemacht haben und nun der Renaissance des Guten im Wege stehen.
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Am Ende liegt die Schuld bei den anderen
Nostalgie ist eine bequeme Geisteshaltung. Ihre Annahmen sind für den Nostalgierenden schlüssig, schließlich nehmen sie ihm die Last des „Schlechten“ von den Schultern. Sie ermöglicht es, mit dem Finger auf Menschen und Dinge zu zeigen, die einfachste Form der persönlichen Erhöhung. Die Melancholie ob der nichtigen Vergangenheit versetzt einen in die missliche Lage eines Opfers der gegenwärtigen Zustände. Die Fehlersuche weist jegliche Schuld des Einzelnen – und vor allem der Vergangenheit selbst – ab.
Schuld sind am Ende immer die Anderen, die die schöne heile Welt massiv gestört und vereinnahmt haben, aus den vergnügten Händen gerissen und aus stattlichen Gestalten, alte kränkliche Geschöpfe gemacht haben. Wird es aber zu einer Renaissance der Vergangenheit kommen? Nein, denn die Vergangenheit ist vergangen. Wird das Schlüsselereignis, das zum Untergang des Guten geführt hat, gefunden? Nein, dafür ist die Vergangenheit viel zu komplex. Ist die Wiedergeburt des Vergangenen überhaupt wünschenswert? Nein, denn wenn uns die Geschichte von Frankensteins Monster eines gelehrt hat, dann dass das Tote besser tot bleiben soll, selbst wenn es Güte in sich trägt. Die Vergangenheit sollte die Vergangenheit bleiben, die Gegenwart die Gegenwart und die Zukunft so offen und undefiniert wie eh und je.
Gestreckte Finger führen nur zu Ausgrenzung, Verachtung und Hass. Aus nostalgischen Erzählungen werden schnell vermeintliche Dolchstöße und am Ende bleibt nur das unendliche Nichts und das Versäumnis, dieses mit etwas Neuem zu füllen und das Alte ruhen zu lassen. Die Geschichte hat nicht zum Ziel, zur romantisierten Vergangenheit zu verleiten. Gerade hier kommt es doch zum Dreiklang. Das Gegenwärtige erzählt das Vergangene, sodass das Zukünftige davon profitieren kann.
Rucilin wird nicht daran gesunden, wenn man seiner Vergangenheit nacheifert!
Solitär – Eine Erzählung aus pandemischen Zeiten
Das Prinzip der Trägheit
Ich halte mir die Schulter, während ich versuche nicht laut zu fluchen. Gewürzgläser stoßen aneinander und die losen Messer schieben sich in Richtung Bieröffner zu einem kleinen Häufchen zusammen. Das kam unerwartet. Normalerweise ist diese Schublade voller und demnach auch schwerer, daher muss man auch mit etwas Kraft daran ziehen. Nun ist sie beinahe leer. Der Grund für meine schmerzende Schulter steht also fest. Mein Muskelgedächtnis und mein Mitbewohner.
Im Oktober – klischeehafterweise an meinem Geburtstag – bin ich gen Süden nach Franken gefahren. Ein Bewerbungsgespräch in einem Nürnberger Museum. Morgens um 8 Uhr ins Auto gestiegen und los. Mit gekreuzten Fingern am Frankfurter Kreuz vorbei und dann mehr oder weniger freie Bahn nach Bayern. Hinter Würzburg kurze Pipi-Pause an einer Raststätte. Die Toilette besteht komplett aus rostfreiem Edelstahl. Pissoir, Klosett, Boden, Wände, Decke und Tür. Was normalerweise den Gipfel von Ekel und Entsagung jeglicher Menschlichkeit bedeutet, ist erstaunlich sauber. Ich pinkle im Stehen. Beim Verlassen der Kabine, fällt mir die Reinigungskraft mit einem Hochdruckreiniger auf, die gerade in die nebenan liegende Kabine geht. Sofort tritt ein dünner Wassernebel aus der offenstehenden Tür. Das nennt sich Effizienz oder ist es lediglich Resignation gegenüber der Tragik der Allmende. Wenn die anderen nicht in die Schüssel pinkeln, warum sollte ich es dann anders machen. So viele sind stolz auf unsere deutschen Autobahnen und vergessen dabei stolz auf die letzten kostenfreien Raststätten-Klohäuser zu sein, die wohl zu den größten Sozialexperimenten der Welt zählen. Das Free-for-all der öffentlichen Sanitäranlagen. Man beschwert sich über 70 Cent Toiletten-Gebühr – zurecht, muss ich sagen – und sucht sich stattdessen einen Baum, der noch nicht von den Sanifair-Nazis eingezäunt wurde und pisst zivilisiert dagegen. Kostet der Pott aber nichts, wird der Ehrgeiz geweckt. Wo sonst kann man denn heute noch so animalisch frei sein. Die Reinigungskraft mit dem Hochdruckreiniger tut mir natürlich leid, aber dennoch macht sie mich auf gewisse Art auch zornig: Schließlich zerstört sie mit dieser Wundermaschine das letzte künstlerische Element, dass der deutschen Autobahn geblieben ist.
Ich zücke mein Smartphone, welches auf der Fahrt von Rüsselsheim zu diesem Nabel der Ästhetik einige Male geklingelt hat. Die erste Nachricht von Oli. Der Nachrichtenverlauf zeugt von inniger Liebe:
8:42
Boah du bist so alt
So richtig alt, so ganz widerlich widerlich richtig alt bäh!
9:52
Ich bin heute Morgen aufgewacht und habe die Nachbarskinder angeschissen,
weil sie in meinen Petunien gespielt haben, so alt bin ich!
9:53
Petunien? Was bist du? Ein Hippie?
Echte alte Männer haben Rosen oder Geranien
Immer diese 68er! Junge Hüpfer
Alles Gute zum alt werden mein Bester
9:54
Danke dir
9:55
Und jetzt schnapp dir dein Silikonkissen. Leg dich ans Fensterbrett und mach diese Jungen fertig
Und nicht vergessen, früher war alles besser! Bis dieser Kohl kam
18:37
War heute in Nürnberg zum Vorstellungsgespräch und bin jetzt nach Hause gekommen.
Mein Nacken tut weh, mein Hintern tut weh und ich brauch jetzt nen Eierlikör
Die anderen Nachrichten von Patentante und Arbeitskollegen. Nachrichten von den längsten Freunden kommen erst spät abends.
Ich antworte und setzte mich wieder ins Auto und fahre weiter Richtung Nürnberg. Dort angekommen melde ich mich am Empfang und nutze die Zeit bis zum Gespräch, um mir die Ausstellung anzuschauen. Ein ehemaliger Arbeitskollege gratuliert mir per Nachricht. Ich bedanke mich und schicke ein Bild der Nürnberger Ausstellung mit dem Hinweis auf mein Gespräch. Er wünscht mir Glück. Er hatte mich bei der Suche nach einer Stelle immer unterstützt. Es verging eigentlich keine Woche ohne eine Nachricht von ihm mit angehängten Stellenausschreibungen, darunter auch die für Nürnberg. Nach gut einer Stunde und der knappen halben Ausstellung kommt eine Frau auf mich zugelaufen und fragt mich etwas abgehetzt, ob ich der Herr Bihn bin. Ich bejahe das, immerhin bin ich auch der einzige mit Sakko in der Ausstellung.
Eine Bewerberin ist nicht erschienen, also könnte ich schon etwas früher ins Gespräch, ob ich damit einverstanden wäre. Ich sage ja. Vor dem Konferenzraum, in dem das Gespräch stattfinden soll, steht die Direktorin mit ihrem Smartphone in der Hand. Sie telefoniert mit der nicht erschienenen Bewerberin. Sie legt auf, begrüßt mich und bittet mich in den Raum. Ich begrüße die sechsköpfige Delegation und setze mich. Schon zu Beginn habe ich ein gutes Gefühl, nicht zuletzt auch deswegen, weil mir als erstes zu meinem Geburtstag gratuliert wird. Wie lang das Gespräch dauerte weiß nicht, es wurde viel gelacht, man war zufrieden. Ich verabschiede mich und schaue mir die restliche Ausstellung an. Es ist ungefähr 13 Uhr. Ich nutze die Möglichkeit, mir die marode NS-Architektur des Reichsparteitagsgelände anzuschauen. Wer weiß, wann man schon mal wieder die Chance hat, in Nürnberg zu sein. Ich fahre nach Hause. Zwei Tage später erhalte ich einen Anruf. Ich habe die Stelle.
November und Dezember verbringe ich mit der WG-Suche. Dabei dachte ich mir: Neue Stadt, du kennst niemanden, dann lieber ein WG-Zimmer mit Menschen, die sich auch in der Stadt auskennen und mit denen man mal was unternehmen kann. Aber so gewiss die Antwort auf die Frage, warum Deutschland in so vielen Bereichen dem Rest der Welt hinterherhinkt, „Helmut Kohl“ lautet, so gewiss ist auch die Tatsache, dass man sich irren kann, wie es mir meine schmerzende Schulter und die Gewürzgläser in der Schublade vor mir klarmachen.
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Vom Erwachsenwerden
Ich rücke den Inhalt der Schublade wieder zurecht und schaue aus der Küche auf die geschlossene Zimmertür meines Mitbewohners. „So ein Arsch“ denke ich mir. Ich gehe in mein Zimmer. Über den Flur schallt sein Gelächter. Mehr habe ich von ihm in drei Monaten nicht gehört. Bis auf ein genuscheltes Moin, kam nie etwas von ihm. Ende Februar klärt mich meine Mitbewohnerin darüber auf, dass er im April ausziehen wird. Das er mir davon nichts erzählt hat, erstaunt sie. Es erklärt aber auch so einiges. Bei jedem Vorstellungsgespräch mit potenziellen neuen Mitbewohnern – schließlich haben wir noch ein leerstehendes Zimmer in der WG –, zeigt er sich von seiner sympathischsten Seite. Warum sollte er sich auch nur im Geringsten für diese Wesen vor sich interessieren, wenn er doch bald weg ist.
Allmählich sammeln sich im leeren Zimmer Umzugskartons, die Küche wird immer leerer. Bald darauf schafft er seine Couch in das leere Zimmer – warum auch immer. Ich fahre auf eine Tagung nach Dresden, die glücklicherweise noch vor dem Corona-Lockdown stattfinden konnte. Eine zweite Tagung in München in derselben Woche wird abgesagt. Dresden bringt etwas Abwechslung in meine Situation. Frauenkirche, Zwinger, Elbufer. Alles strahlt. Ich bin einen Tag vorher angereist. Ich laufe entlang des barocken Stadtbilds und habe tatsächlich ein klares Ziel vor Augen. Auf die andere Seite der Elbe, dort wo am Ufer ein großer roter Stahlrahmen steht: Der Canaletto-Blick. Die schönste und einfachste Art, zu erklären, was ein Ensemble ist. Ich denke an meine Heimat. Die Tagung selbst verläuft prima. Am ersten Abend gibt es einen Empfang im Verkehrsmuseum. Ich komme mit Leuten ins Gespräch, die ich am folgenden Tag wiedersehe und bei der Rückreise immer wieder über den Weg laufe. Zurück in Nürnberg, zeigt sich so langsam die Ausmaße der Krise, die uns bevorsteht. Meine Mitbewohnerin, die ungefähr zur selben Zeit nach Münster zu ihren Eltern gefahren ist, meldet sich und teilt mit, dass sie vorerst dortbleiben wird. Ich bleibe also vorerst mit dem Schweigen allein.
Eine Woche nach Dresden werde ich ins Homeoffice geschickt. Kontaktsperre auch auf der Arbeit. Ein Zustand, der über die Entstehungszeit dieses Textes hinausgeht. Übersichtliche Aufgaben werden weiter reduziert, sodass es kaum etwas zu erledigen gibt. Ich sitze an meinem PC, weil ich erreichbar bleiben muss, habe aber nicht viel zu tun. Währenddessen wird die WG immer weiter ausgehöhlt. Anfang April liegt der Schlüssel meines Mitbewohners im Flur. Scheinbar ist er ausgezogen. Ich schreibe ihn an: „Ich weiß ja, dass wir nicht die tiefgründigsten Gespräche geführt haben, aber du hättest wenigsten Tschüss sagen können“. Es kommt eine Entschuldigung als Antwort. Es gab so viel Stress und dann kam auch noch ein Hexenschuss dazu. Ich lauf durch die WG und schaue nach, was er alles mitgenommen hat. Meine Reaktion: Ich bestelle für 300€ Hausrat, schließlich haben alle Geschäfte zu. Ob ihm bewusst ist, dass ich keine Entschuldigung hören wollte, sondern seine Erkenntnis über sein arschiges Verhalten? Sein Zimmer ist leer, das zweite Zimmer auch, bis auf seinen selbstgebauten Schreibtisch, der dort an der Wand lehnt. Ich schraube ihn auseinander. Das Holz kann man nicht mehr gebrauchen, aber der Schrauben und Winkel sind noch wie neu. Jetzt gehören sie mir. Geputzt hat er natürlich nicht. Ich putze die Fenster, offenbar geschieht das nun nach Monaten mal wieder. Überall liegt Staub. Den Staubsauger hat er mitgenommen. Die erste Bestellung erreicht mich nach fünf Tagen. Es ist ein Staubsauger. Ich spüre eine gewaltige Freude. Bin ich alt geworden? Bin ich nun erwachsen? Überall wird über klatschende Menschen auf Balkonen berichtet. Solidarität geistert durch die Köpfe. Freudiger Optimismus überall. Dieses Mal wird alles anders. Wirklich?
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Die Wirklichkeit des Unwirklichen
Der Freude über diesen Optimismus kann ich mich natürlich nicht entziehen, aber ich mache mir dennoch Gedanken. Ich vertraue ihm nicht, genauso wenig der Solidarität, die nun überall freudig beklatscht wird. Sie ist zu spontan, zu mitreißend, kurz: Sie ist zu menschlich.
Dazu ist es nötig, dass ich auf meine Gedanken eingehe. Meine Skepsis erschließt sich aus zwei Beispielen, die ich wie folgt nennen möchte: Die Wirklichkeit des Unwirklichen und die Tragik der Katastrophe.
Ersteres ist allgegenwärtig. Albert Camus beschreibt den Tod als absolutes Ende und unausweichliche Fatalität. Vielmehr ist er die einzige Fatalität. Der Moment, der sich völlig unserer Kontrolle entzieht, der uns alle ereilt, auch wenn wir ihn vor uns herschieben. Der Tod ist der Erzfeind des Lebendigen. Ein Feind, den man zwar bekämpfen kann, der aber immer siegen wird. Wie also mit diesem Feind verfahren? Wir könnten fragen, wie die Tiere mit ihrem unausweichlichen Untergang verfahren, ob sie sich ihrer Fatalität bewusst sind oder ob diese davon einfach ereilt werden? Die Antworten darauf würden aber immer im Schatten des Menschen stehen. Kein anderes Lebewesen zeigt vermutlich einen solchen kreativen Umgang mit dem Untergang: Der Tod wird von der Wirklichkeit in die Unwirklichkeit verschoben und vermeintlich besiegt. Wie das?
Eine der einfachsten Möglichkeiten, ist es, in einer so überwältigenden Ignoranz gegenüber dem Tod zu leben, dass dieser nie zum Thema wird. Am Ende bleibt der große Schock. Die zweite Möglichkeit wäre der philosophische Suizid, die Zuwendung zur Religion. Die großen Religionen teilen sich alle eine Obsession mit dem Tod und wie dieser umgangen werden kann. Die abrahamitischen Religionen z.B. deuten den Tod von einem Ende zu einem Anfang um. Nach dem Tod wartet das Paradies und das Leben bei Gott. Dies birgt natürlich die Gefahr, dass sogar das Leben auf die Zeit nach dem Tod verschoben wird. Der Buddhismus konzentriert sich auf die Leiden des Samsara, dem Kreislauf aus Tod und Wiedergeburt, den es zu durchbrechen gilt, um ins Nirvana überzugehen. Es zeigt sich eine ähnliche Systematik. Der Tod wird zum Anfang des neuen Lebens, ob nun als Wiedergeburt oder als Nirvana. Dazu gesellen sich Erzählungen und Legenden von der Suche nach der Unsterblichkeit: Gilgamesch und Gralslegenden. Und nun mittendrin auch die Sehnsucht des modernen Menschen nach Lebensverlängerung und Unsterblichkeit in digitaler Form. Bei allem wird der Tod zur Unwirklichkeit erklärt, etwas, das man verändern und ausschalten kann. Man widersetzt sich einem der Grundsätze dieser Welt: Etwas, das ist, kann nicht nicht-sein!
Die Konflikte, die sich daraus ergeben, kann man in fast jeder Todesanzeige herauslesen. Menschen sterben nicht einfach so, sie sterben „plötzlich“ und „unerwartet“, sie werden aus dem Leben gerissen. Der Tod offenbart seinen perfiden Plan, indem er sich dem Menschen und seiner Grenze widersetzt und ihn von seiner Wirklichkeit überzeugt. Er ruft den absoluten Stillstand herauf. Die einzige Fatalität. Ähnlich verhält es sich nun auch mit der Plage, ob sie nun auch in der Lage ist, den Tod zu bringen oder nicht. Krankheiten, Epidemien und auch Pandemien waren schon immer bekannt, aber genauso wie der Tod wurden und werden sie in die Ferne gerückt oder sogar in die Unwirklichkeit. Plagen sind Ereignisse einer vergangenen Zeit, in der die Menschen rückständig waren. Die Pest verkommt zur Schauergeschichte aus dem ach so düsteren Mittelalter, die Spanische Grippe zur Nebensächlichkeit der Jahrhundertkatastrophe des Ersten Weltkriegs. Die Moderne kann nicht von Plagen befallen werden, weil der moderne Mensch nicht dafür ausgelegt ist. Umso lauter der Knall, wenn die Plage tatsächlich kommt. Das vermeintlich Unwirkliche offenbart schmerzhaft seine Wirklichkeit. Die Plage ist nun da und sie wird wiederkommen. Sie ist so beständig wie die Ignoranz des Menschen gegenüber der letzten Fatalität.
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Die Tragik der Katastrophe
Katastrophen sind so alt wie die Menschheit selbst. Diese Momente der Hoffnungslosigkeit gegenüber der eigenen Hilflosigkeit. Sie entgleiten unserer Kontrolle. Wir können sie nur betrachten und den Schaden minimieren. Tschernobyl 1986, World Trade Center 2001, Tsunami 2004, Erdbeben, Vulkane, Terror, Krieg und Plagen. Dennoch keimt in der Hilfslosigkeit die Hilfsbereitschaft auf. In der Hoffnungslosigkeit werden Lösungen und Vorkehrungen ausgesprochen. Die Katastrophe macht den Menschen solidarisch.
Die Tragik jedoch, liegt genau in der zweifachen Lesart des Satzes: „Die Katastrophe macht den Menschen solidarisch“ Zuerst sticht natürlich im Positivem hervor, dass der Mensch in Zeiten der Katastrophe sich der Solidarität zuwendet. Auf der anderen Seite führt die Aussage aber auf, dass es erst die Katastrophe braucht, um so zu handeln. Lösungen werden ausgesprochen, aber nicht verwirklicht. Schlüsse werden gezogen, aber keine Konsequenzen. Hände werden zuerst gereicht, bevor sie einen wegstoßen. Der Mensch braucht die Katastrophe, um solidarisch zu sein. Zumal sie auch hilft, den Schrecken zu vertreiben. Ihn unwirklich zu machen. Zu einem bösen Traum, aus dem man erwachen muss. Aber wie so oft bei Träumen, vergisst man nach dem Aufstehen schnell Inhalt und Existenz. Das klingt pessimistisch, weil es pessimistisch ist.
Die Lösung dieser Tragik liegt in der Auflösung dieser Ambivalenz, indem man die Solidarität effektiv von der Katastrophe löst und sie auf die Gesamtheit anwendet. Statt essenzieller Solidarität, die existenzielle hervorruft. Ein Appell in seiner Reinform: „Hört auf Solidarität zu zeigen und beginnt damit solidarisch zu sein!“
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Beifall, Abgang links
Die Erde steht nun seit gut sieben Wochen still. Die Pandemie und ihre Toten sind scheinbar nebensächlich geworden. Hinter jeder Ecke werden nun Verschwörungen vermutet. Die Pandemie nur als Vorwand zum Aufbau eines Unrechtsstaates. Demonstrationen für Haarschnitte und Maniküre. Erfolgt die Aufforderung zur Auflösung, wird das Grundgesetz gezückt. Artikel 1 „Die Würde des Menschen“, Artikel 2 „Die persönliche Freiheit“, Artikel 5 „Meinungsfreiheit“ und natürlich Artikel 8 „Versammlungsfreiheit“. So nachvollziehbar der Griff nach der Grundlage unserer Demokratie auch ist, er offenbart eine schreckliche Wahrheit: Keiner dieser Menschen liest über Absatz 1 hinaus. Der Wohlstandstrotz zeigt seine volle Absurdität.
In Sachen Solidarität liegen die Karten auf dem Tisch. Wie damit verfahren wird, zeigt sich in den nächsten Monaten. Mir persönlich stellt sich nur eine Frage: Bestelle ich nun eine Haarschneidemaschine oder nicht?
Pandemische Gedanken I – Die Tragik der Katastrophe
Katastrophen sind so alt wie die Menschheit selbst. Diese Momente der Hoffnungslosigkeit gegenüber der eigenen Hilflosigkeit. Sie entgleiten unserer Kontrolle. Wir können sie nur betrachten und den Schaden minimieren. Tschernobyl 1986, World Trade Center 2001, Tsunami 2004, Erdbeben, Vulkane, Terror, Krieg und Plagen. Dennoch keimt in der Hilfslosigkeit die Hilfsbereitschaft auf. In der Hoffnungslosigkeit werden Lösungen und Vorkehrungen ausgesprochen. Die Katastrophe erinnert uns darin solidarisch zu sein. Die Tragik jedoch, liegt genau in dieser Erinnerung. Denn erst die Katastrophe erinnert uns an die Solidarität. Lösungen werden ausgesprochen, aber nicht verwirklicht. Schlüsse werden gezogen, aber keine Konsequenzen. Hände werden zuerst gereicht, bevor sie einen wegstoßen. Der Mensch braucht die Katastrophe, um solidarisch zu sein. Zumal sie auch hilft, den Schrecken zu vertreiben. Ihn unwirklich zu machen. Zu einem bösen Traum, aus dem man erwachen muss. Aber wie so oft bei Träumen, vergisst man nach dem Aufstehen schnell Inhalt und Existenz. Das klingt pessimistisch, weil es pessimistisch ist. Wird diese Plage etwas ändern? Vermutlich nicht. Dafür sind Menschheit, Katastrophen und Plagen viel zu alt.
„Eine Plage ist nicht auf den Menschen zugeschnitten, daher sagt man sich, daß sei unwirklich ist, ein böser Traum, der vorübergehen wird. Aber geht nicht immer vorüber, und von einem bösen Traum zum nächsten sterben Menschen […]“ (Albert Camus)
Pandemische Gedanken II – Die Wirklichkeit des Unwirklichen
Unser Denken, Handeln, und Leben beruht auf der Annahme, dass es immer vorangeht. Jede Abweichung wird als Störung empfunden. Sie wird zum bösen Traum. Zum Unwirklichen. Umso kreativer sind wir die Störung ins Unwirkliche zu schieben. Die Katastrophe ist bedauerlich, aber es wird weitergehen. Das mag im Kleinen funktionieren, aber was passiert, wenn die großen Krisen kommen, wenn aus der Störung der Stillstand oder sogar der absolute Stillstand wird?
In den USA demonstrieren Menschen mit Sturmgewehren gegen den Lockdown. Ihr Feind ist aber kein Schurkenstaat, keine Minderheit, die sie unterdrücken können. Ihr Feind ist unsichtbar und noch nicht mal lebendig. Man kann nicht mit dem Finger auf ihn zeigen oder ihn mit Kugeln verletzen. Er ist sich seiner Feindseligkeit nicht mal bewusst. Die Bewaffneten bewaffnen sich gegen einen bösen Traum, so muss man den Stillstand verstehen. Wir bekommen die letzte Etappe vor der letzten Grenze präsentiert, die letzte Grenze, die unsere ganzen Bemühungen des Immer-Voranschreitens nichtig macht. Die einzige Fatalität: Der Tod. Menschen sterben nicht einfach so. Sie sterben „plötzlich“ und „unerwartet“. Der Tod ist der absolute Stillstand, umso absoluter die menschliche Maßnahme dagegen: Er wird ins Unwirkliche verrückt. Bis er uns daran erinnert, wie wirklich er ist. Die Plage ist nur die seichte Erinnerung an die Wirklichkeit des Unwirklichen.
„Sie hielten sich für frei, und niemand wird je frei sein, solange es Plagen gibt.“ (Albert Camus)
„Wham! Bam! Thank you, Ma’m!“ – Von Versöhnung und Vergessen (Abstract)
Dieses Abstract umschreibt einen Vortrag der bei der Tagung (Un)Versöhnt an der Universität des Saarlandes am 25. Juni 2021 gehalten werden sollte. Die Tagung wurde pandemiebedingt abgesagt, dennoch bedanke ich mich für die Möglichkeit, vor interanationalem Publikum, die Vortrag halten zu können und bedanke mich bei Prof. Dr. Michael Simon, dass er mich dazu ermutigt hat, dieses Abstract einzureichen.
Im Juli 1945 versammelt sich eine Delegation amerikanischer Militärs und Juristen an einer vermeintlich unscheinbaren Ziegelsteinmauer an der Grabenstraße im südhessischen Rüsselsheim. Sie untersuchen dort eines der unzähligen Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkriegs und leiten damit einen der ersten Kriegsverbrecherprozesse der Nachkriegszeit ein. An besagter Mauer wurden am 26. August 1944 sechs amerikanischer Bomberpiloten von einem aufgebrachten Mob gelyncht.
Anfang 1944 wurde die Stadt Rüsselsheim – gelegen zwischen Mainz und Frankfurt am Main – zum Ziel großangelegter Bombardierungen. Grund dafür war die Firma Opel, welche eine immer wichtigere Rolle in der deutschen Kriegsproduktion einnahm. Durch die angrenzende Lage des Werks an die Rüsselsheimer Innenstadt, wurden nicht nur weite Teile der Produktionsanlagen getroffen, sondern auch ganze Stadtbezirke. Der Hass auf die Bombardierenden wuchs stetig. Endgültig entlud sich dieser Hass, als eine acht-köpfige amerikanische Bomberbesatzung, welche nach deren Abschuss bei Hannover, auf dem Weg in ein Kriegsgefangenenlager in Oberursel, durch Rüsselsheim eskortiert wurde, nachdem sie aufgrund zerbombter Gleise den Transportzug verlassen mussten. Recht schnell sammelte sich eine Gruppe um die acht Amerikaner und ihre Eskorte. Auf Beleidigungen folgten geworfene Steine und Schläge. In Richtung Grabenstraße gedrängt, waren die Amerikaner der Willkür des Mobs ausgeliefert. Niedergeknüppelt und teilweise bewusstlos, erfolgte die Hinrichtung durch Schüsse in den Kopf. Zwei der acht Amerikaner überlebten dadurch, dass sie sich totstellten und durch die leblosen Körper ihrer Kameraden vor weiteren Schlägen geschützt wurden. Die Leichen wurden verscharrt. Sidney Brown und William Adams gelang bei einem Fliegeralarm die Flucht.
Trotz eines Prozesses 1945 geriet der Vorfall in Vergessenheit. Die Ziegelsteinmauer verschwand ebenso, wie die Erinnerung. Zur Jahrtausendwende erfolgten die ersten Versuche einer Aufarbeitung. 2001 folgte Sidney Brown der Einladung nach Rüsselsheim und reichte ohne Groll die Hand zur Versöhnung. 2004 weiht man im Dasein Browns ein Mahnmal für die Lynchmorde ein. 2009 stirbt Brown in seiner Heimatstadt. Sein Tod findet in Rüsselsheim keine Erwähnung.
Die Geschichte der Rüsselsheimer Lynchmorde von 1944 ist eine von vielen Kriegsverbrechen in den letzten Kriegsjahren, welche von der Zivilbevölkerung begangen worden sind. Die Wut auf die sogenannten „Terrorflieger“ entfesselte sich schnell in Gewalttaten und eben auch Mord.
Umso interessanter ist der Umgang mit diesen Verbrechen, nach 1945. Zwar wurden im Fall Rüsselsheim die Beteiligten juristisch belangt und auch teilweise hingerichtet, jedoch verschwand das Ereignis und die Erinnerung daran in kürzester Zeit. Man wollte nicht mit diesen Taten in Verbindung gebracht werden oder wissen, dass die Eltern oder Großeltern zu so etwas fähig waren. Diese Verdrängung sorgte auch dazu, dass über zwei Jahrzehnte die Aufarbeitung der NS-Verbrechen vielerorts minimal ausfiel.
Stein des Anstoßes in Rüsselsheim, war der Kultursommer 1992, als der Künstler Hans Diebschlag in seinem offenen Atelier das Gemälde „Wir lieben das Marschieren“ malte, nachdem ihm von Besuchern von den Lynchmorden 1944 erzählt wurde. Aus der Debatte, die daraus entstand, entsprang die Idee zur näheren Aufarbeitung. Günther Neliba verfasste auf Grundlage der Prozessakten von 1945 ein umfangreiches Werk. In den USA beschäftigte sich August Nigro vornehmlich mit den Erlebnissen der amerikanischen Flieger. Das Forum urbanum initiierte letztendlich, dass den gelynchten Amerikanern ein Mahnmal gesetzt wird.
Der wohl eindrücklichste Akt der Versöhnung im Fall Rüsselsheim liegt nicht in der Tatsache, dass den Opfern von 1944 ein Mahnmal geschaffen wurde, sondern in den zwei Besuchen Sidney E. Browns in der Stadt, in der er schreckliches erlebt hat. Ohne Groll, Hass oder Verachtung reichte er den Rüsselsheimern 2001 die Hand zur Versöhnung. Drei Jahre darauf wird in seinem Beisein ein Mahnmal eingeweiht, welches auf ganz besondere Art, den Betrachter einbindet.
In Gewisser Hinsicht findet eine Lokalisierung der Versöhnung statt bzw. hätte allein stattgefunden, wenn Brown der Einladung nach Rüsselsheim nicht gefolgt wäre. Erst durch die Handreichung Browns wird diese Versöhnung so einzigartig.
Erschreckend werden jedoch die Jahre nach dem letzten Besuch Browns. 2009 stirbt er in seiner Heimatstadt. Sein Tod bleibt in Rüsselsheim ungehört. Mittlerweile ist hinter dem Mahnmal ein eingezäunter Parkplatz entstanden, welcher die Gesamtästhetik und -wirkung massiv stört. Zum 75. Jahrestag der Lynchmorde 2019 fanden diesbezüglich keine Veranstaltungen statt. Bis heute wird Brown als Opfer eines Kriegsverbrechens gedacht, nicht aber sein Akt der Versöhnung.
Gezielt möchte ich den erinnerungs- und geschichtskulturellen Blick auf das Thema „Versöhnung“ werfen. Also: Was wird erinnert? Wie wird erinnert?
Der Fall Brown und Rüsselsheim bietet dabei zwei Antwortmöglichkeiten.
- Was: Den Lynchmorden an sechs amerikanischen Piloten
- Wie: Mit einem Mahnmal an der Stelle der Morde
Oder
- Was: Die Versöhnung Browns mit der Stadt der Lynchmorde
- Wie: Mit der Erinnerung an die Tat und dem Akt der Versöhnung in Form des Mahnmals und der Erinnerung selbst
In Rüsselsheim ist Punkt 1. der Fall. Die Versöhnung der Lynchmorde wird über das Aufstellen des Mahnmals vollzogen. Brown erscheint als Zeitzeuge und Opfer der Tat. Sein Handeln und seine Begegnung mit der Stadt, werden zur Nebensache, was sich letztlich in der ausbleibenden Reaktion auf seinen Tod verdeutlicht wird.
Daraus würden sich folgende Fragen ergeben:
- Kann ein Akt der Versöhnung erinnerungs- und geschichtskulturell lokalisiert werden?
- Kann ein erinnerungs- und geschichtskultureller lokalisierter Akt der Versöhnung wieder vergessen werden?
Museen, auf die Straße! – Mein Beitrag zur Blogparade 2020 von Jörn Brunotte
In der Zukunft werden wir via Flugtaxi oder Unterdruck-Transport-Röhre à la “Futurama” zu den Museen dieser Welt reisen. Dort angekommen, betritt man die nunmehr gänzlich digitalisierten Sammlungen mittels der Datenbrille und kann bequem per Handbewegung zwischen den einzelnen Sammlungsgebieten hin und her wechseln. Und noch während ich das hier schreibe, führe ich eine Hand an meine Stirn und schüttle nur den Kopf angesichts dieser spekulativen und vor allem utopischen Vorstellungen, die ich hier abtippe. Die Zukunft ist in der Regel unspektakulär, unaufgeregt und – verständlicherweise – sehr weit entfernt. Der Historiker in mir blickt dann gerne auf den Bilderzyklus „En l’an 2000“, der Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden ist und die technischen Wunder des Jahres 2000 zeigen wollte. Schüler*innen lernen mittels Maschine, die Bücherinhalte direkt in die Köpfe transferiert – natürlich noch per Kurbelantrieb. Feuerwehrleute, die mit mechanischen Flügeln brennende Gebäude löschen. Oder die komfortable Videotelefonie mit dem Handspiegel. Im Grunde viele biedere Damen und Herren in einer Welt aus Lochblech, viel Draht und Glühbirnen. Mein im Jahr 2000 verhungertes Tamagotchi verkneift sich im Jenseits eine Träne, da es offenbar schon im Jahr 1900 ein potenzielles Dasein in Vergessenheit geführt hat.
Schieben wir also die spektakuläre Zukunft zur Seite und werfen wir einen Blick auf die nächsten Jahre. Das Zeitalter nach Corona. Mich hat es im Januar 2020 vom Untermain an die Pegnitz gezogen. Der Plan: Zwei Jahre Volontariat. Dieser Plan wird nach nur zwei Monaten umgeworfen. Lockdown 1, Homeoffice und die Frage, wie soll das eigentlich funktionieren: Museum in der Pandemie? Man macht sich Gedanken, beginnt zu experimentieren und plant die ersten Veranstaltungen und Angebote, die die Zeit der pandemiebedingten geschlossenen Museumspforten überwinden sollen. Die Frage nach dem Danach, dem Jahr 1 nach Corona, bleibt aber noch unbeachtet, drängt sich aber allmählich auf. Abseits der Museumsarbeit macht sich die Pandemie auch bemerkbar. Der Kulturverein in der Heimat, in dem ich trotz der Entfernung weiterhin tätig bin, muss seine Kulturkonferenz absagen. Mein Redemanuskript, das ich hierfür vorbereitet habe, wandert in die Schublade. Der Appell, der darin zum Anklang kommt, erscheint in Zeiten von Kontaktbeschränkungen und Maskenpflicht unpassend: Künstler*innen auf die Straße! Ein Appell, der sich gegen die Entfremdung zwischen Kunstschaffenden und Publikum richtet, Teilhabe fordert, indem die direkte Partizipation befördert wird.
Ein Appell, der sich auch auf den Bereich Museum anwenden lässt. Besucher*innen nicht nur als Gäste und Konsumenten des Hauses verstehen, sondern als aktive Partizipierende. Letztendlich macht die Schaffung von Denk- und Diskussionsräume nur dann Sinn, wenn sich die Institution Museum dabei nicht als letzte Instanz versteht, die sich dennoch vorbehält, festzulegen, was am Ende die Wahrheit ist und was nicht. Es muss ein langfristiges Ziel sein, Besucher*innen eine Möglichkeit zu schaffen, sich direkt an musealen Prozessen zu beteiligen und das sollte über einen bloßen Fragebogen hinausgehen. Und der Weg dahin ist im Grunde genauso unspektakulär wie die Zukunft selbst. Ein erster Schritt kann bereits sein, einen Blick hinter die Kulissen zu gewähren: Wer arbeitet im Museum und was machen diese Leute überhaupt den ganzen Tag? Das mag banal klingen, ist aber durchaus nötig, wenn ich daran denke, dass mich immer noch Leute fragen, warum ich montags zur Arbeit ins Museum gehe, wenn es doch montags geschlossen ist.
Corona hat Museen vor die Herausforderung gestellt sich umzuorientieren, neue Methoden anzuwenden und alte Schemata fallen zu lassen. Dies gilt es auch nach der Pandemie beizubehalten. Neues ausprobieren, abseits der Norm. Popkulturelle Ansätze, Partizipation, die über das Knöpfe-drücken hinausgeht. Bietet doch mal eine Führung durch die Verwaltungsräume an. Lasst Besucher*innen einen Ausstellungsraum einrichten. Wartet nicht darauf, dass die Leute zu Euch ins Haus kommen und geht hinaus, geht auf die Straße. Der Rest wird folgen.